von Stephan Bartels
9 Min.
Auf der Isle of Wight vermischen sich mediterranes Flair und britische Lebensart – was immer schon Kreative aus der ganzen Welt angezogen hat. Kein Wunder, die Insel ist selbst ein kleines Kunstwerk.
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Manchmal ist es eine gute Idee, die Perspektive zu wechseln. Sich die Sache von außen anzuschauen. Einen Überblick zu verschaffen. Und genau das tut Ed Blake beinahe jeden Tag. Ed ist Fischer, und wenn er den kleinen Hafen von Ventnor verlässt, schaut er gern der Insel nach, die seine Heimat ist. Dem leuchtend gelben Strand, der bunten Promenade, den Häusern in Weiß und Grau und Sandsteinbraun und lauter pastelligen Farben, die allesamt so alt sind, dass schon Queen Victoria sie gesehen hat.
Ed schaut den Hügel hinauf, der in üppigem Grün über seiner kleinen Stadt thront und Ventnor abschirmt vom Rest der Welt und vor allem: vom Wetter. Denn was Ed auch sieht: Palmen. Üppige Sträucher und Blumen, es ist, als würde man sich von der Mittelmeerküste entfernen und nicht von einer Insel im Ärmelkanal. "Irre, oder?", sagt Ed, nicht ohne einen gewissen Stolz. "Das da am Ufer, das ist England. Das ist die Isle of Wight."
Ed Blake ist 30, er ist Fischer geworden, weil sein Vater es ist. Und weil es sonst nicht mehr viele seiner Sorte gibt. "Die meisten sind an den EU-Regeln gescheitert", sagt er, "und nach dem Brexit am Chaos der Orientierungslosigkeit." Dabei werden solche wie Ed gebraucht. Denn seine Insel hat nicht nur ein außergewöhnliches Klima für diese Breiten zu bieten und eine atemberaubende Natur – sie ist auch reich an erstklassigen Restaurants. Und für die werden Eds Fänge, seine Hummer, Langusten und Riesenkrabben, dringend benötigt.
Kunstvolle Landschaft zieht Künstler:innen an
Ventnor ist ein besonderer Ort. Aber nicht der einzige auf dieser Insel, denn da wären ja auch noch Bonchurch, Totland und Sandown. In Großbritannien hat die Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg einige Teile des Königreiches zu "Areas of Outstanding Natural Beauty" erklärt, zu Deutsch: Gebiete von außerordentlicher natürlicher Schönheit. Im Fall der Isle of Wight hat man sich die Sache einfach gemacht – und die Insel fast komplett in die Liste aufgenommen. Wer die 380 Quadratkilometer einmal betreten hat, braucht keine weitere Erklärung. Kreidehügel ziehen sich mal sanft, mal schroff über die gesamte Insel, entzückende Städtchen wie Yarmouth, Shanklin oder Seaview liegen wie hingetupft an der Küste, es ist ein impressionistisches Kunstwerk.
Apropos Kunst: in diesem Klima konnte auch die immer gut gedeihen. Zum Beispiel unten in Freshwater, im Westen der Insel. Dort lebte, beinahe sein halbes langes Leben lang, Lord Alfred Tennyson, der so eine Art Nationaldichter seiner Zeit war. Er zog Ende des 19. Jahrhunderts einen ganzen Zirkel von kreativen Köpfen an. Lewis Caroll, der Schöpfer von "Alice im Wunderland" gehörte dazu, aber auch Charles Darwin. Der Maler G.F. Watts, der Schriftsteller Charles Dickens. Und vor allem Julia Margaret Cameron, die erste Fotografin des Königreichs. Die lebte damals in der Dimbola Lodge, heute ein Museum mit angeschlossenem Café-Betrieb. Im Garten steht verblüffenderweise eine Statue von Jimi Hendrix – denn es gibt ja noch mehr Kultur hier. Das Isle of Wight Festival nämlich. Dreimal fand die Rocksause am wilden Ende der 1960er statt. Die Ausgabe von 1970 ist mutmaßlich das größte Rockevent aller Zeiten. 700 000 Leute hörten The Doors, Leonard Cohen, Joan Baez, Jimi Hendrix … Es war heftig. Es war legendär.
Das Festival gibt es immer noch. Oder vielmehr: wieder. In Newport, in der Inselmitte, ein bisschen geordneter, deutlich kleiner. Es fügt sich ein in den Vibe dieser Insel, die gefühlt beschaulicher ist als der Rest der westlichen Welt. Weil man genau das an jeder Ecke, an jeder Klippe tun will: stehen bleiben und schauen.
Der Leuchtturm von St. Catherine ist ein solcher Ort, zufällig auch der südlichste Punkt der Insel. Man kommt nicht mit dem Auto hin, aber dieses Fleckchen Erde ist wie gemacht zum Laufen. Und zwar über den prächtigen weißen Leuchtturm hinaus, über die Weiden der Knowles Farm, im Slalom durch Dutzende von Kühen hindurch, durch einen ziemlich verwunschenen Wald hinunter zum Rocken End Beach. Glücklich ist, wer da den Sonnenuntergang erwischt.
Die Insel, die inspiriert
Dort, wo der Abstieg zum Wasser beginnt, ist das Niton Undercliff. Es ist einer der Arbeitsplätze von Chloé Rosetta Bell. Chloé kommt eigentlich aus Leeds. Ihre Familie besaß hier ein Ferienhaus. Sie war 16, als ihre Eltern beschlossen, ganz hierher zu übersiedeln. "Und es gibt nicht einen Tag, an dem ich meinen Eltern nicht dafür danke", sagt sie und lacht.
Auch Chloé lebt von der Kunst und deshalb krabbelt sie oft in den Abbruchkanten des Undercliffs herum, um Lehm und Ton zu ernten. Es ist der Grundstoff für ihre Arbeit, Chloé Bell ist Keramikkünstlerin (chloerosettabell.com). Und zwar eine, die sich ziemlich konsequent von dem inspirieren lässt, was ihre Umgebung ihr anbietet.
Ihr Atelier thront hoch über dem Meer in St. Lawrenc. Und auch von dort bekommt sie Stoff für ihre Stücke. Von Ed Blake, der manchmal schwarzes, fossiles Holz aus dem Ärmelkanal zieht, eine Erinnerung daran, dass es zwischen England und Frankreich mal kein Wasser gab. Das bringt er dann Sophie, die es zu Asche mörsert und eine Glasur für ihre Vasen und Skulpturen daraus macht. Genau wie aus den Hummerschalen, die er ihr mitbringt, wenn er sie besucht. Oder ihren Mann, den besten Freund von Ed seit der Grundschule. Gut 140 000 Menschen leben auf der Insel. Man kennt sich.
Vom Atelier kann man auf das Meer sehen, und Chloé Bell tut das sehr oft. Sie liebt es, sie lebt mit ihm, und ihre Stücke sind deshalb so besonders, weil man die Insel in ihnen wiederfindet. Sie haben eine kaum erklärbare Tiefe. "Bisher habe ich Glück gehabt, ich habe alles verkauft", sagt sie. "Ich glaube, das liegt daran, dass sich die Leute für die Geschichte dieser Stücke begeistern."
Chloé hat eine Freundin in Ventnor, die das täglich auch erlebt. Sophie Honeybourne macht Schmuck, und manchmal staunt sie selbst darüber, wie die Leute auf ihre Sachen reagieren. "Das hier ist ein kleiner Laden in einem winzigen viktorianischen Ort am Meer – aber ich habe Hunderte von sehr treuen Kunden im ganzen Land", sagt Sophie. Manchmal versucht sie sich das zu erklären. Und landet immer wieder am selben Punkt: ihre Verbundenheit mit diesem Ort.
Sophie Honeybourne ist 47, sie kommt aus Ventnor. Kunst war schon als Kind ihr Ding, "ich habe immer gemalt und Sachen gebastelt". Später ist sie nach London gegangen, an das Royal College of Art. Ihre Sachen wurden ihr schon damals aus den Händen gerissen. Aber London war nichts für sie, nicht auf Dauer. "Ich kann nicht ohne die Isle of Wight sein", sagt sie, "ich war nie länger als drei Wochen weg von hier."
Immer wenn sie heimgekehrt ist, war ihr erster Weg zum Strand. "Ich musste das Meer riechen", sagt Sophie, "das ist überhaupt das Erste, was ich jeden Morgen tun muss." Und auch das ist Teil ihrer Kunst. Die Steine, die Formen, alles ist geprägt von der Insel. Und vom Meer.
Ein wunderschöner Mikrokosmos
Es ist alles da, dieses Kompakte gefällt ihr an der Isle of Wight. "Bei uns ist alles wie in einer Miniaturwelt", sagt sie. "Du kannst baden, deine Füße in den Sand stecken, und zwei Minuten später gehst du durch einen dichten Wald einen Berg hinauf. Und ein paar Kilometer weiter ist Marschland. Das hier ist ein Mikrokosmos."
Apropos: den Berg hinauf. Auch das lohnt sich, ist auch bloß ein kurzer Weg, von Ventnor geht es direkt und steil hinauf zum Saint Boniface Down, diese Wand, die Ed Blake jeden Tag von seinem Fischerboot sieht. Bis zu 240 Meter hoch ist sie, und so steil es auf der einen Seite hochgeht, so sanft fällt die Landschaft auf der anderen Seite ab. Auf der Down Lane oben blättert sich die ganze Insel auf. Der Solent im Norden, eine Meerenge, die die Isle of Wight von Portsmouth und Southampton auf dem Festland trennt. Osborne House, der Sommersitz von Queen Victoria, auf dem sie 1901 gestorben ist, lässt sich höchstens erahnen. Godshill liegt da vorn, eine Puppenstube von einem Ort. Weiter hinten das Marschland um Yarmouth. Und so viele Felder und sanft geschwungene Täler und Ruhe und Frieden und Weite. Eine Insel als Gesamtkunstwerk.
Wie gesagt: Manchmal sollte man einfach mal die Perspektive wechseln
Unsere Tipps für die Isle of Wight
Hinkommen & Rumkommen
So richtig nah liegt die Isle of Wight nicht an einem Flughafen. Am besten erreicht man sie über London, Heathrow oder Gatwick – mit oft günstigen Flügen. Von beiden Airports kommt man mit Zug und Fähre über Portsmouth in gut zweieinhalb Stunden bis nach Ryde (ca. 40 Euro). Auf der Isle of Wight empfiehlt sich ein Mietwagen (die Fähren transportieren natürlich auch eigene Autos, ab ca. 55 Euro von Southampton nach Cowes) oder das Fahrrad zum Erkunden der Insel. Das Busnetz ist gut ausgebaut. Strecken und Fahrpläne gibt es unter islandbuses.info.
Genießen
The Piano Café. Aufgemacht hat dieses wunderbare Café der einstige Klavierstimmer von Queen Victoria, daran erinnert auch sein Name. Es ist tagsüber die Antwort auf alle Hungerfragen. Zum Frühstück gibt es allerlei belegtes Sauerteigbrot (ab 13 Euro), zum Mittag Suppe, Burger und Salate (ab 16 Euro) –und der Kuchen ist echt der Wahnsinn. Und Klavierspielen gibt’s for free. (Freshwater, Gate Lane, Tel. 019 83 47 28 74, thepianocafe.co.uk)
The Taveners. In England gehört ein Pub-Besuch unbedingt dazu. Dieser ist eine Luxusvariante. Der Pub hat Klassisches wie Steak und Fish & Chips im Programm, aber in höchster Qualität – und fantastische selbst gemachte Pommes (Godshill, High Street, Tel. 019 83 84 07 07, thetavernersgodshill.co.uk)
Castlehaven Retreat & Beach Café. Wow. Nicht nur bei Immobilien gilt: Lage, Lage, Lage. Sondern auch beim Essen. Hier speist man draußen und ein paar Meter über dem Meer, das Essen kommt aus einem besseren Food-truck. Aber es ist fantastisch: Asiatisch Angehauchtes wie ein Seafood-Trio aus Krabbentoast, Krabbentempura und Jakobsmuscheln ab 19 Euro, Wagyu-Burger mit Beilagen kosten 33 Euro, Nachtisch wie einen Brownie mit Karamel-Miso und Eis bekommt man ab 12 Euro. Super lecker! (Puckaster, Castlehaven Lane, Tel. 019 83 73 04 95, castlehaven.me.uk)
Smoking Lobster. Jetzt wird es etwas hipper. Das "Smoking Lobster" an der Promenade in Ventnor ist eines der angesagtesten Restaurants der Insel. Dabei sieht es drinnen fast nüchtern aus. Aber die asiatisch-europäische Fusionsküche ist es nicht. Vorspeisen (zum Beispiel Chinesischer Rübenkuchen) gibt es ab 11 Euro, einen ganzen Wolfsbarsch mit abgefahrenen Beilagen für 34 Euro. Spektakulär! (Ventnor, Esplande, Tel. 019 83 85 59 38, smoking-lobster.co.uk)
Übernachten
Sentry Mead. Bed & Breakfast in Perfektion. Die sieben Zimmer im kleinen, charmanten Hotel an der Westspitze der Insel sind im modernen Landhausstil eingerichtet. Und auf der anderen Seite der Straße gibt es einen grandiosen Sonnenuntergang. DZ/F ab 237 Euro (Totland Bay, Madeira Road, Tel. 019 83 75 32 12, sentrymead.co.uk)
The Seaview. Wer den klassisch englischen Hotelcharme liebt, bei der trotz dicken Teppichen der Fußboden knarzt, wird sich hier wohlfühlen. Verwinkelt, charmant, tolle Zimmer, einige mit Meerblick. DZ/F ab 148 Euro (Seaview, High Street, Tel. 019 83 61 27 11, seaviewhotel.co.uk)
Ventnor Bay House. Okay, jetzt wird’s exklusiv. Gerade mal zwei Zimmer gibt es im entzückenden "Ventnor Bay House", eines mit Meer-, das andere mit Hügelblick. Und die werden auch nur von April bis September vermietet. Aber das Frühstück ist klasse, und die Lage sowieso. DZ/F ab 225 Euro.(Ventnor, 3 Devonshire Terrace/Dudley Rd., Tel. 075 86 25 90 00, ventnorbayhouse.co.uk)
Erleben
The Needles. Erleben hat auf der Isle of Wight fast immer mit Bewegen zu tun. The Needles muss man sich erlaufen, vom Parkplatz kurz hinter Totland sind es knapp 20 Minuten zum alten Militärposten The Battery – und dahinter liegen spektakuläre Felsformationen, die tatsächlich wie Nadeln aus dem Wasser ragen. Der Spaziergang kostet nix, eine Besichtigung der alten Militäranlage 9 Euro. Alternativ kann man sich The Needles auch aus der Entfernung anschauen, auf einem aufregenden Trip mit einem Sessellift. Der startet am Parkplatz und kostet 10 Euro. (West High Down, Alum Bay, Tel. 019 83 75 47 72, nationaltrust.org.uk/needles-old-battery-and-new-battery)
Osborne House. Queen Victoria hat die Isle of Wight geliebt. Es lohnt sich, ihren Sommersitz zu besuchen. Der Palast und die Gärten sind zauberhaft angelegt. Der Eintritt kostet im Voraus gebucht 28 Euro. (East Cowes, Tel. 037 03 33 11 81,english-heritage.org.uk/visit/places/osborne)
Garlic Farm. Ja, wirklich: eine Knoblauchfarm, die gibt es hier auf der Insel. Eigentlich ist es eher ein Knoblauch-Erlebniszen-trum, mit Workshops rund um die Knolle, mit einem riesigen Shop, einem echt guten Restaurant – sogar absteigen kann man dort, in Luxus-Jurten. Muss man gesehen haben. (Newchurch, Mersley Lane, Tel. 019 83 86 53 78, thegarlicfarm.co.uk)
Shanklin Chine. Wie jetzt? Einen Wasserfall gibt es auch auf der Isle of Wight? Jawohl. Und der liegt inmitten einer komplett verwunschenen Schlucht, durch die man für etwa 9 Euro Eintritt durch fast tropische Vegetation hinab zum Shanklin Beach steigt. Aber all das macht man am besten nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Schlucht wunderschön beleuchtet ist. (Shanklin, 3 Shanklin Avenue, Tel. 019 83 86 64 32, shanklinchine.co.uk)
Mehr Infos gibt es hiervisitisleofwight.co.uk.
Shoppen
Honeybourne Jewellery.Der kleine, aber sehr feine Schmuckladen der liebenswerten Sophie Honeybourne rechtfertigt jeden Weg nach Ventnor. Und der Rest der Stadt auch. (Ventnor, 3 Church Street, Tel. 019 83 85 46 18, honeybournejewellery.com)
Telefon
Die Vorwahl von England lautet 00 44.
Hätte ich das gewusst …
Mehr als 180 Sonnentage pro Jahr gibt es auf der Isle of Wight, irgendwie ist es immer schöner und wärmer als im Rest von England. War mir nicht so klar, sonst hätte ich den Sonnenschutz nicht vergessen und dafür die Regenjacke zu Hause gelassen.
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Brigitte